05. Baugeschichte und Architektur
Der Zustand des Gutes Großenhof nach einem Inventar im Jahr der Restitution 1755Ebba Margareta De la Gardie konnte eine Reihe Dagöer Güter nach zwölf jährigem Kampf 1755 zurückerlangen. Sie waren ihrem Großvater Axel Julius De la Gardie in Folge der Güterreduktion Karls XI. 1691 entzogen worden. Im April 1755 restituierte die russische Kaiserin Elisabeth I. fünf Ländereien an ihre treue Untertanin. In welchem Zustand die Gräfin die Güter Großenhof|Pöhalep|Suuremõisa, Hienhof|Hiiessaare, Hohenholm|Kõrgessaare und Putkas|Putkaste sowie die Feuerbaacke zu Koppo|Leuchtturm Kõpu übernahm, wurde in Inventaren zu den Gütern 1755 festgehalten.[1] Das Dokument gibt Aufschluss über den Zustand der Gebäude, der Gärten sowie die vorhandenen Lebensmittel, Gerätschaften und die zu den Gütern gehörende Bauernschaft. Des Weiteren wurden die Verpflichtungen der Gräfin festgehalten, die auf den Höfen erwirtschafteten Vorräte ihrer ehemaligen Pächter zu bezahlen. Die zugehörigen Bauern und Handwerker wurden namentlich vom Kind bis zur Greisin, das von ihnen bewirtschaftete Land, die auf dem Hof lebenden Tiere sowie deren Zustand aufgeführt. Auch der Wechsel einzelner Personen auf andere Höfe und die von den vor Ort Lebenden zu leistenden Abgaben wurden genau notiert. Für das Anwesen Großenhof soll die Beschreibung kurz zusammengefasst und an prägnanten Stellen mit einem im Reduktionsjahr 1691 angefertigten schwedischen Inventar in Beziehung gesetzt werden.[2] Das Gut Großenhof umfasste 1755 mehr als 20 Gebäude. Es gab unter anderem ein gut erhaltendes zweistöckiges Wohnhaus aus Stein von circa 35m Länge und 12,6m Breite (19 ½ x 7 Faden)[3]. Es war auf einem hohen Steinfundament errichtet, der Keller war in zwei Räumen überwölbt.[4] In der schwedischen Bestandsaufnahme aus dem Reduktionsjahr 1691 wurde noch ein altes einstöckiges Gebäude mit zwei Schornsteinen und einem Bretterdach aufgeführt (28,8 x 9m).[5] Auf einer Karte von circa 1708 ist das Gebäude mit der Bezeichnung „Hoff Pöhalep“ vereinfacht abgebildet. Dem zufolge entstand das zweistöckige Haus erst nach 1708.[6] Im Jahr 1755 bestand das Dach noch immer aus Brettern, war aber inzwischen mit drei Schornsteinen versehen. Das untere Geschoss enthielt eine Eingangs- bzw. Vorhalle (Vorhaus), einen großen Saal und sieben Zimmer sowie eine (schwedische) Küche, während es im oberen Geschoss nur zwei Kammern gab. Dem Wohnhaus gegenüber stand eine baufällige Herberge (Herrberge) mit Torfdach von ca. 16m Länge und 8m Breite (9 x 4 ½ Faden). Es enthielt eine Badestube (Badstube) nebst drei Kammern und einem Vorhaus. Unmittelbar bei der Herberge hatten die vormaligen Pächter ein neues kleines Käsehaus aus Brettern bauen lassen (KäsHaus von Brettern). Des Weiteren gab es eine Amtsmannherberge, verschiedene Scheunen und Speicher (Kleten), einen Pferdestall, eine Wagenscheune (Wagen-Schaur), ein Gefängnis und einen großen Garten. Letzter befand sich „hinter dem Wohnhause“. Die Gräfin Ebba Margareta konnte auf einen Garten zurückgreifen, in dem „verschiedene alte Äpfel, und Kirschen Bäume, wie auch Johanns Beeren Sträucher“ gediehen. Der Garten enthielt dazu eine Reihe großer wilder Bäume und drei Teiche. Er war von einem hölzernen Zaun umgeben (guten Stacketen Planck). Unmittelbar bei dem Garten hatte man außerdem eine umzäunte Sonnenuhr platziert.[7] Im Jahr 1691 wurde der Obstgarten ebenfalls beschrieben. Was seine Ausmaße und Gestaltung anbelangte, waren die Angaben präziser: Der von Planken umgebene Garten bestand aus aus zwei Teilen: 147 Apfel-, 55 Kirsch- und 6 Pflaumenbäume verteilten sich auf circa 209 x 137 Meter (116 x 76 Klafter). Für die Beerensträucher, deren Beete in acht Quadrate eingeteilt und mit Längs- sowie Quergängen versehen waren, wurden circa 270 x 103 Meter (150 x 57 Klafter) angegeben. Den Garten betrat man durch ein Doppeltor oder eine Gartentür vom Haus aus.[8] Die Bestandsaufnahme von 1755 führte weitere Gebäude auf, die für die neue Besitzerin interessante wirtschaftliche Optionen bereithielten. Er gab eine Brau- und eine Brandweinküche, eine quadratischen Stallanlage (Viehgarten) für Rinder und Schweine. Zum Gut Großenhof, berichtete der deutschbaltische Publizist und Pastor August Wilhelm Hupel im Jahr 1782, gehörten auch eine Reihe kleiner Inseln, die hauptsächlich als Heuschläge und Viehweiden (Raiwast, Wareslaid, Heinalaid, Herralaid, Radakalaid, Takkar, Harris und Wohhi), aber auch als Wohnort für Fischer (Sarnako) genutzt wurden.[9] Der Hof besaß eine Schmiede samt vollständiger Ausstattung, es gab Werkzeug zur Herstellung von Schiffen und auch ein fahrtüchtiges kleines Transportschiff mit „Siegel und Thau“. Hinzu kamen eine Reihe Lager- und Dörrstätten (Riegen) und eine baufällige Windmühle. Zum Gut gehörten Äcker, ein Krug bei der „Pöhalepschen Kirche“, eine Fischerei und Waldflächen. Circa 1 ½ Meilen vom Hof entfernt, befand sich ein zum Gut gehörender Kalkofen mit fünf Mündungen, in dem bis zu 300 Lasten Kalk[10] (ca. 600t) auf einmal gebrannt werden konnte.[11] Die Kalkproduktion, bereits Haupteinnahmequelle für die Vorfahren der Gräfin,[12] sollte für sie ein wichtiges Handelsgut werden. August Wilhelm Hupel berichtete 1774: „Zu Dagen hat Frau Gräfin von Steinbock bisher ein eigenes Schiff gehalten, welches Korn aus Hapsal, und Kalk von Dagen nach Lübeck führt, und Salz auch Stückgüter von dort bringt.“[13] Die Hansestadt Lübeck schien demnach einer der wichtigen Standorte für die Geschäfte der Gräfin gewesen zu sein. Die Gräfin betrieb Kalkhandel, unter anderem im deutschen Norden, mit einem eigenen Schiff, für dessen Instandsetzung alle Mittel auf dem Gut bereitstanden. Das Gut selbst war auf landwirtschaftliche Tätigkeiten ausgerichtet, ob ausschließlich für den Eigenbedarf oder auch für den Handel, ist unklar. Das Meer und der nahe liegende Fluss westliches des heutigen Herrenhauses lieferte Fisch und die umliegenden kleinen Schäreninseln Weideland. Die Bestandsaufnahme von 1755 verdeutlicht, dass Ebba Margareta ein wirtschaftlich gut aufgestelltes Anwesen übernahm. Es brauchte jedoch ein neues Wohnhaus, das mit repräsentativer Ausstrahlung dem gesellschaftlichen Stand der Gräfin sowie dem Zeitgeist gleichermaßen gerecht wurde.
Zum Haus der Gräfin De la Gardie unter Berücksichtigung historischer Zeichnungen aus dem Estnischen Nationalarchiv TartuIm Estnischen Nationalarchiv in Tartu lagert ein Konvolut Zeichnungen aus dem Nachlass der Familie Ungern-Sternberg, den Nachfolgern der Familie Stenbock auf Dagö|Hiiumaa. Ab 1796 war Otto Reinhold Ludwig von Ungern-Sternberg der Eigentümer von Großenhof. Seinen Nachfahr:innen und Erben:innen sollte das Haus bis ins 20. Jahrhundert gehören. Das Konvolut enthält Zeichnungen der Fassaden des Corps de Logis‘, Grundrisse und Entwürfe für die Fassaden von Stallgebäuden, einen Entwurf für die Überformung der Gartenfassade aus dem 19. Jahrhundert, eine Raumliste für das Corps des Logis und die Seitenflügel, Grundrisse der beiden Seitenflügel sowie einen Entwurf für ein Segelschiff mit Maßangaben. Die Blätter sind nicht datiert, das Konvolut wurde von Archivaren ins 18. Jahrhundert eingeordnet.[14] Zunächst zu einem Blatt mit der Zeichnungsfolge von den Aufrissen der Vorder- und Gartenfassade des Corps de Logis' sowie einem Gebäudequerschnitt durch das Haupthaus vom Dachstuhl bis ins Kellergewölbe [Abb. 1 Zeichnungsfolge]. vergleicht man die Zeichnungen mit der heutigen Fassade, fällt auf, dass sich die Zeichnungen kaum von der noch existierenden Außenarchitektur unterscheiden. In den Zeichnungen sind außerdem die erst 1772 angefügten Seitenflügel angedeutet. Es kann sich demnach kaum um Entwürfe handeln, die im Vorfeld des Baus von Großenhof entstanden.[15] Interessant ist auch, dass im Dachbereich des Querschnittes (untere rechte Zeichnung) gelbe Punkte eingefügt worden sind, die aller Wahrscheinlichkeit nach wichtige statische Punkte des Mansarddaches markieren. Ein weiteres Element bilden ergänzende Einfügungen mit Bleistift. Sie wurden der professionellen, mit Tusche lavierten Federzeichnung recht ungelenk hinzugefügt. Man erkennt zum Beispiel Dekorationen an den Schornsteinen, ein angedeutetes zusätzliches Geschoss im Mittelrisaliten des Corps de Logis sowie ausladende Fensterverzierung auf der Zeichnung der Gartenfassade (mittlere Zeichnung). Diese Ergänzungen ähneln den Verzierungen der Außenfassade, die auf einem weiteren Blatt aus dem Konvolut der Familie Ungern-Sternberg [Abb. 2 historistische Gartenfassade]. Bei diesem Blatt handelt es sich um einen professionellen Entwurf, in dem die prächtige Ausgestaltung und Überformung der Großenhof‘schen Gartenseite, die für das 19. Jahrhundert typische Stilmischungen aufweist, festgehalten wurde. Das Zeichnungskonvolut belegt, dass die Familie Ungern-Sternberg im 19. Jahrhundert eine umfassende Überformung der Fassade des Haupthauses überlegte. Ein historischer Fakt ist, dass Ewald von Ungern-Sternberg (1824 - 1899) im 19. Jahrhundert Veränderungen im und am Haus vornehmen ließ. Diese betrafen unter anderem die Installierung eines Speisesaals in der unteren Etage (Zusammenlegung zweier Räume im Südtrakt auf der Parkseite), die Anbringung eines neuen Treppenturmes auf der Südseite des Haupthauses, eine Umformung der Paradetreppe im Vestibül des Herrenhauses sowie eine umfangreiche Umgestaltung der vielfach vorhandenen, meist in Grautönen gefassten Dielenböden [Abb. 3 Dielenoden] in Parkettböden. Letztes ging mit einer Anhebung des Bodens von beeindruckenden 20 cm im unteren Saal sowie in weiteren Räumen der ersten Etage einher.[16] Die besprochenen Zeichnungen könnten also einen Status Quo der bis dato vorhandenen Architektur festgehalten haben und schlussendlich die Außenarchitektur so abbilden, wie sie von der Bauherrin Ebba Margareta De la Gardie (1704-1775) mit ihren Baumeistern geplant hatte. Folgt man den Aussagen des Kunsthistorikers Heinz Pirang, entstand das Wohnhaus (Corps de Logis) zwischen 1755 und 1760. Erst 1772, so Pirang, komplettierten die Seitenflügel das Ensemble.[17]Das Haus der Gräfin De la GardieUnbekannte Baumeister schufen bis 1772 (Bauzeit Corps de Logis vermutlich zwischen 1755 und 1760)[18] eine voluminöse und ausladende Anlage, die sich in die heutige umliegende Parklandschaft harmonisch einfügt [Abb. 4 Foto Vorderseite]. Das Corps de Logis ist zweistöckig und mutete durch die ursprünglichen Fenster im Mansardwalmdach sowie die Kellerfenster mehrstöckiger an [Abb. 1 Zeichnungsfolge]. Die Fenster im Bereich des Dachstuhls gibt es heute nicht mehr. Alte Fotografien bestätigen jedoch, dass sie existierten [Abb. 5 Fassade Marburg].[19] Auf dem Dach erheben sich vier mächtige Mantelschornsteine, die die Symmetrie der Fassade eindrucksvoll unterstreichen. Ganze dreizehn Achsen gliedern das Corps de Logis. Die drei mittleren Achsen treten auf beiden Seiten des Hauses in einem aus der Fassade ragenden Risaliten hervor, der jeweils von einem Dreiecksgiebel bekrönt ist. In der Vorderansicht ragt der Risalit nur leicht aus der Fassade, auf der Parkseite ist er wegen der Säle im Inneren des Hauses ausladender. Wie auf den Zeichnungsfolge des Nationalarchivbestands, ist der Dreiecksgiebel auf der Gartenseite höher als jener der Vorderfront, um dem weit hervortretenden Risaliten proportional gerecht zu werden. Beide Dreckecksgiebel enthielten ursprünglich eine Uhr, die heute auf der Gartenseite noch recht gut zu zu erkennen ist [Abb. 1, 4, 6]. Ein Glockentürmchen, das eine historischen Fotografie [Abb. 5][20] zeigt, findet sich auf den Zeichnungen nicht. Er könnte demnach eine Zugabe des späteren 19. Jahrhunderts gewesen zu sein. Die Mittelrisalite heben sich durch Quaderungen an den äußeren Rändern zusätzlich ab. Gleiche sind an den äußeren Kanten des Corps de Logis und den Seitenflügeln (auch Pavillons) zu finden. Ursprünglich hatte die heute weiß getünchte Fassade eine ganz andere Wirkung. Bautechnische Untersuchungen zum Haupthaus ergaben im Jahr 2000, dass die erste Farbschicht einen hellen Rosaton aufweist. Noch heute erkennt man im Putz der Vorderfassade Hinweise auf die ursprünglichen zierenden Fenstereinfassungen, wie sie auch auf der Zeichnungsfolge des Nationalarchivs zu finden sind [Abb. 1]. Vermutlich waren diese, wie auch die Quaderungen, in einem helleren Farbton gehalten, damit sie sich effektvoll vom Rosaton abhoben.[21] Einen Eindruck, wie ein solcher Anstrich wirkt, kann man unter anderem am Stenbock Palais auf der Insel Riddarholmen in Stockholm nachvollziehen [Abb. 7 Stenbockpalais Stockholm]. Zum Haupthaus gehörten weitere Schmuckelemente, die ebenfalls auf den Zeichnungsfolgen des Nationalarchivs angedeutet sind. Balustraden, ausladende Freitreppen und Terrassen waren zu beiden Seiten des Hauses angebracht. Heute sind die Balustraden verschwunden, aber die Freitreppen und Terrassen existieren noch in Teilen. An der Vorderseite des Hauses formte sich mit den Seitenflügeln eine Cour d’Honneur, die mit Gespannen befahren werden konnte. Die prächtige Eingangstür aus Eichenholz mit ihren kunstvollen floralen Applikationen ist zweifellos eine bemerkenswerte Besonderheit des Baus [Abb. 8]. Es gibt bisher keine historischen Zeugnisse über die Entstehung der schmuckreichen Eingangstür. Vorstellbar ist, dass sie nach gängigen dekorativen Mustern von erfahrenen Inselschreinern direkt auf dem Gut gefertigt wurde. Die Seitenflügel Ob es sich bei den Zeichnungen der Grundrisse zu den Seitenflügeln aus dem Konvolut der Familie Ungern-Sternberg um erste Entwürfe handeln könnte, ist unklar [Abb. 9, 10]. Wie eine dazu gehörende Liste mit Raumbezeichnungen zeigt [Abb. 11, Transkription?], wurden die Räume der über zwei Stockwerke gehenden, 1772 umgesetzten Flügelanbauten von Angestellten, wie Weber, Handwerker, Tischler, Domestiken und Buchhalter genutzt. Zusätzlich enthielten sie Wohnräume für Amtspersonen (Doktor und Inspektor). Einen zweiten Eingang auf der hofabgewandten Seite zeigt in den Entwürfen nur der nördliche Flügel.[22]
Inselressourcen für das HausDie hölzernen barocken Details im Herrenhaus Suuremõisa zeichnen sich durch ihre sorgfältige Ausführung aus. Bei den Arbeiten stand der Gräfin möglicherweise das fachkundige Wissen der inselansässigen Handwerker zur Verfügung. Holz war von jäher ein wichtiger Rohstoff, den es auf der Insel reichlich gab. Er wurde unter anderem für den Boots- und Schiffbau, aber auch für die Kalkproduktion gebraucht.[23] Dagö|Hiiumaa bot alles, was benötigt wurde, um ein Haus der Größenordnung von Großenhof|Suuremöisa zu errichten. Bautechnische Untersuchungen ergaben, dass das Haus aus Kalkstein besteht, der unter anderem aus dem Abbaugebiet in Hilleste unweit des Gutes stammte.[24] Eine Ziegelei auf dem Gut Großenhof erwähnte der Landvermesser Samuel Dobermann in seinen Schriften Ende des 18. Jahrhunderts.[25] Es ist denkbar, dass die Gräfin eine Ziegelei für den Hausbau einrichten ließ. Ziegel und Holz konnte sie außerdem in ausreichender Menge auch aus weiteren Orten der Insel beziehen.[26] Schlussendlich bleiben viele Fragen zur ursprünglichen Substanz und Ausstattung des Hauses aus der Zeit des Gräfin ungeklärt. Weitere Untersuchungen zu Konstruktion und Alter der verschiedenen Bestandteile, bspw. zu dem im Haus verbauten Holz, könnten neue Erkenntnisse liefern.
Forschungsansätze zu möglichen Vorbildern für das HerrenhausEs gibt verschiedene Theorien über mögliche Vorbilder für Großenhof|Suuremõisa. Die estnischen Historiker Ants Hein und Ivar Sakk erkennen einen klar schwedischen Einfluss auf die Architektur von Großenhof.[27] Dazu zählt die ausladende Dreiflügelanlage in klassischer Form. In Schweden hatten sich die berühmten und politisch einflussreichen Verwandten der Bauherrin von Großenhof im 17. und 18. Jahrhundert palastähnliche, vornehmlich von der französischen Architektur beeinflusste Herrenhäuser bauen lassen. Ebba Margareta verbrachte eine lange Zeit in Schweden und kannte sehr wahrscheinlich die meisten Häuser ihrer Vorfahren sowie die ihrerzeit aktuellen Bauaktivitäten der Verwandten. Ants Hein führte als ein Vorbild das Prestigeobjekt Schloss Tullgarn an [Abb. 12], das der Onkel Ebba Margaretas, Riksråd Magnus Julius De la Gardie, ab 1720 von dem Architekten und Fortifikationsoffizier Joseph Gabriel Destain (gest. 1740) zu einer barocken Anlage umbauen ließ.[28] Ivar Sakk hingegen verwies auf das Schloss Ulriksdal [Abb. 13][29], welches sich zunächst als Jacobsdal im Besitz von Ebba Margaretas berühmten Urgroßvater Jakob De la Gardie befand. Im Jahr 1669 wurde es an die schwedische Königin Hedvig Eleonora für 85000 rdr. [Riksdaler] verkauft[30] und blieb wie Tullgarn bis heute in königlichem Besitz. Der imposante Renaissancebau erfuhr ab 1727 von den schwedischen Architekten Göran Josuæ Adelcrantz und Carl Hårleman eine Überformung zum Barockpalast.[31] Alle drei Architekten – Destain, Hårleman und Adelcrantz – waren für die Bauprojekte des schwedischen Adels im 18. Jahrhundert bedeutsam.[32] Eine vergleichende Analyse des Herrenhauses Großenhof mit dem Schloss Tullgarn kann nicht durchgeführt werden, da sich keine Entwürfe von Destain erhielten und der Bau im Laufe der Jahrhunderte überformt wurde.[33] Als einen lohnenden Ansatz kann jedoch Heins Verweis auf weitere, noch erhaltene Entwürfe aus der Feder Destains verfolgt werden.[34] Der Kunsthistoriker Juhan Maiste erkennt in den zahlreich erschienenen Architekturmusterbüchern des 18. Jahrhunderts mögliche Anregungen für das Wohngebäude von Großenhof.[35] Er verweist dabei unter anderem auf den schwedischen ArchitektenCarl Wijnblad, der ab 1755 umfangreich zum Thema repräsentativer Wohnhäuser publizierte. Der Kunsthistoriker sieht in den voluminösen barocken Formen des Hauses gleichzeitig einen dezidiert baltischen Einfluss und erweitert zudem den Radius vergleichender Betrachtungen nach Polen und in den nordostdeutschen Raum.[36] Musterbücher geben neben den Zeichnungen von verschiedenen Baukomponenten eines Hauses, auch Informationen zu den benötigten Materialmengen sowie anfallende Kosten und vermittelten damit einen sehr praktischen Ansatz. Da sicher ist, dass kein namhafter Architekt mit ausgefeilten Konstruktionszeichnungen das Bauprojekt Großenhof betreute, ist der Einsatz von Musterbüchern bei der Planung vorstellbar. Die estnische Kunsthistorikerin Elis Pärn fand Teile der ehemaligen Bibliothek Großenhofs in der Universitätsbibliothek in Tallinn. In der Großenhof‘schen Bibliothek gab es unter anderem ein 1766 erschienenes Musterbuch von Johann Gotthilf Angermann mit dem Titel Allgemeine practische Civil-Bau-Kunst / welche zum Vortheil aller Haus- Wirthe und Bau-Verständigen abgefasset worden.[37] Ebba Margareta könnte also Bücher dieser Art besessen haben. Passend liefern frühere Forschungen des Historiker Ants Hein einen aus Bayern stammenden Bauleiter Peter Opel (Maurer Obell). Opel war, so Hein, 1760 auf dem Gut tätig. Zuvor hatte er unter anderem in St. Petersburg gearbeitet. Der Baumeister übernahm 1764 auch Arbeiten an der Kirche in Keinis|Käina und war danach für verschiedene Bauprojekte in Tartu tätig.[38] Ebba Margareta ließ mit Großenhof einen Bau errichten, der einerseits nach Schweden und die dortigen Häuser bzw. Bauprojekte ihrer Verwandten der Familien De la Gardie und Stenbock, zu verweisen scheint. In der baulichen Ausführung könnten andererseits Architekturmusterbücher des 18. Jahrhunderts als Vorlagen gedient haben. Die Gräfin engagierte Baumeister, die Berufserfahrungen unter anderem im deutschen und russischen Raum gesammelt hatten. Darüber hinaus setzte sie das fachmännische Wissen der Inselhandwerker sowie die Arbeitskraft der Bauern[39] von Hiiumaa|Dagö ein. Der Pragmatismus der Bauherrin zeichnet sich deutlich ab. Für die Errichtung ihres Hauses verstand sie es, die zur Verfügung stehenden Mittel auszuschöpfen, um ein Herrenhaus vom Format Großenhofs|Suuremõisas zu schaffen. Trotz mancher Finanzlücke trieb sie das repräsentative Bauprojekt weiter, bis es spätestens 1772 seinen heute noch erhaltenen Umfang gänzlich entfaltete. Nach jetzigem Wissensstand begann die Gräfin das Unterfangen mit knapp 50 Jahren und beendete es drei Jahre vor ihrem Tod (10.9.1775) mit circa 67 Jahren.
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- ↑ Vgl. AM.104.1.71.
- ↑ Zitiert nach Maiste 2023, S. 211-213. (Anmerkung: Schwedisches Inventar ins Estnische übersetzt von Enn Küng, vom Estnischen ins Deutsche übertragen mittels ChatGpt). Für die Transkription des Dokumentes von 1755 danke ich herzlich Susanne Drutsch.
- ↑ 1 Faden bzw. Klafter = ca. 1,8 m.
- ↑ Vgl. AM.104.1.71.
- ↑ Vgl. Maiste 2023, S. 211.
- ↑ EAA.1.2.C-IV-264, Hoff Pöhalep … med desz 3-ne Akerlotter, 1708 (?).
- ↑ AM.104.1.71.
- ↑ Vgl. Maiste 2023, S. 212-213.
- ↑ Vgl. Hupel 1782, Bd. 3, S. 573-574.
- ↑ 1 Last = 2 Tonnen, ergo 300 Last = 600 Tonnen.
- ↑ Vgl. AM.104.1.71.
- ↑ Vgl. Seppel 2017, S. 226. Vgl. außerdem Seppel in: Põllo, Telvik, Mäeots (Hgg.) 2015, S. 288.
- ↑ Hupel 1774, Bd.1, S. 427.
- ↑ Vgl. EAA.1423.1.279.
- ↑ Ich danke Dan Lukas für die Informationen und Gespräche im Mai 2024.
- ↑ Vgl. ERA.5025.2.13679, A-11556, S. 5 (7). Weitere Informationen: Dan Lukas, Mai 2024.
- ↑ Vgl. Pirang 1926, Bd.1, S. 52.
- ↑ Vgl. Pirang 1926, Bd 1, S. 52.
- ↑ Fotografie im Besitz d. Baltischen Ritterschaft e.V.
- ↑ Fotografie im Besitz d. Baltischen Ritterschaft e.V.
- ↑ Vgl. ERA.5025.2.5654, A-4626, S. 8 (9).
- ↑ Anmerkung: In der Raumliste sind Zimmer speziell für den Herrn und die Frau benannt. Leider ist zu den Nummerierungen der Räume kein Grundriss erhalten, wie es für die Seitenflügel der Fall ist. Im 19 Jahrhundert befanden sich die Räumlichkeiten der Frau auf der linken Seite (Nordtrakt) und die des Herrn auf der rechten Seite (Südtrakt) des Hauses
- ↑ Vgl. Kaskor in: Põllo, Telvik, Mäeots (Hgg.) 2015, S. 529-554.
- ↑ Vgl. ERA.5025.2.5654, S. 6 (7).
- ↑ Zitat Dobermann in: Särg 20222, S. 167.
- ↑ Dank an Dan Lukas für die Information.
- ↑ Vgl. Hein 2017, S. 85-86; Sakk 2004, S. 338.
- ↑ Vgl. Ångström Grandien, Inga Lena: Destain, Joseph Gabriel, in: Andreas Beyer, Bénédicte Savoy and Wolf Tegethoff (Hgg.): Allgemeines Künstlerlexikon - Internationale Künstlerdatenbank, Berlin, New York 2021; Selling, Gösta: Joseph Gabriel Destain, https://sok.riksarkivet.se/sbl/artikel/17497, Svenskt biografiskt lexikon [2024-06-28].
- ↑ Vgl. Sakk 2004, S. 338.
- ↑ Vgl. Slott och Herresäten I Sverige, Bd. 1, Malmö 1971, S. 265.
- ↑ Vgl. Slott och Herresäten I Sverige, Bd. 1, Malmö 1971, S. 277.
- ↑ Vgl. Selling, Gösta: Svenska Herrgårds Hem under 1700-Talet, Arkitektur och inredning 1700-1780, Stockholm 1991.
- ↑ Vgl. Ångström Grandien 2021.
- ↑ Vgl. Hein 2017, 86.
- ↑ Vgl. Maiste 2023, 216-219.
- ↑ Vgl. Maiste 2023, 219 und 222.
- ↑ Vgl. Maiste 2023, 226 (Fußnote 392).
- ↑ Ich danke Dr. Ants Hein für die Informationen [2023-07-12].
- ↑ Zum Bau von Großenhof existiert mündlich weiter gegebenes Wissen. Dank an Vello Kaskor für die Information (Email, 2023-10-12).