Hiiu-Suuremõisa/01. Forschungsstand
Das Gut Suuremõisa im östlichen Teil der estnischen Insel Hiiumaa – zeitweilig auch als Pohilep, Pühalep sowie Großenhof auf der Insel Dagö bekannt [Abb.1, 2] – gehört heute zu den sehr gut erhaltenen Hofensembles Estlands. Die zweitgrößte Insel des heutigen Estlands gehörte rund 70 Jahre (1620 bis 1691) in weiten Teilen einflussreichen Mitgliedern der Familie De la Gardie. Beiträge zur Gutsgeschichte jüngeren Datums konzentrierten sich insbesondere auf die Wirtschaftsaktivitäten der Familie De la Gardie im 17. Jahrhundert.[1] Zur Wirtschaftsgeschichte im Zusammenhang mit den zahlreichen Gütern des landsässigen Adels unter schwedischer Herrschaft forschte bereits der estnische Historiker Arnold Soom umfangreich und quellenbasiert.[2] In den letzten Jahrzehnten erschienen in unregelmäßigen zeitlichen Abständen Beiträge zum Herrenhaus in Überblickswerken: Der Kunsthistoriker Juhan Maiste veröffentliche wiederholt zu den Herrenhausbeständen Estlands seit den 1990er Jahren. Einen ersten kompakten Einblick in die Geschichte und die Architektur des Hauses samt kurzer Quellensammlung legte er 1996 vor. In einem weiteren, 2021 im Baltic Journal of Art History veröffentlichten Artikel [3], erörterte Maiste die Metamorphosen zweier Güter der aus Schweden stammenden Familien De La Gardie und Stenbock: die Herrenhäuser Kolk|Kolga im heutigen Kreis Harju und Großenhof|Suuremõisa im heutigen Kreis Hiiu. Mit dem Fokus auf die erhaltene Architektur aus dem 18. Jahrhundert, exerziert der Autor Ansätze vergleichender architekturtheoretischer Analysen vor familien- und kulturhistorischem Hintergrund. Im Herbst 2023 erschien der zweite Band einer umfassenden kunst- und kulturhistorischen Untersuchung zur Herrenhauslandschaft Estlands. In diesem trug der Autor unter anderem alle seine bisher erarbeiteten Forschungen über die Güter der Familie Stenbock, Kolga und Hiiu-Suuremõisa, zusammen.[4] Auch der estnische Historiker Ants Hein beschäftigte sich mit der Gütergeschichte Estlands. Für Suuremõisa thematisierte er unter anderem einen Baumeister sowie mögliche schwedische architektonische Vorbilder.[5]
Auf Carl Meißner, der im Jahr 1913 von Wilhelm Siegfried Stavenhagen gezeichnete Neue Baltische Ansichten[6] herausgab, scheinen die Daten der Erbauungszeit 1755-1760 des Herrenhauses zurückzugehen, die bisher quellenkundlich nicht klar belegt sind.[7] Der Kunsthistoriker Heinz Pirang veröffentlichte ab 1923 eine erste systematische Erfassung ausgewählter Baltischer Herrenhäuser und lieferte mit dem Anbaujahr der Seitenflügel 1772 ebenfalls unbelegte, ergänzende Baudaten zum Herrenhaus.[8]
Über das Leben und Wirken der Bauherrin Ebba Margareta Gräfin Stenbock, geb. Gräfin De la Gardie [Abb. 3] ist in der neueren Forschung nur in Ansätzen und zum Teil anekdotenhaft publiziert worden. Für erste Forschungsansätze ist eine von Reinhold Stenbock 1937 in Stockholm verfasste genealogische Aufstellung der Familie Stenbock essentiell.[9] Er griff dafür auf Arbeiten des Genealogen Gustav Magnus Elgenstierna zurück.[10] Wenige, immer wieder wieder in neueren Veröffentlichungen aufgenommene Zeugnisse über das Leben der 1704 in Reval|Tallinn geborenen Gräfin finden sich in ab dem späten 18. erschienenen Publikationen zur Geschichte Livl- und Estlands. Der deutschbaltische Pastor und Regionalhistoriker August Wilhelm Hupel widmete sich der Erforschung und Dokumentation Liv- und Estlands in drei Bänden seiner Publikation Topographische Nachrichten von Lief- und Ehstland.[11] Im 19. Jahrhundert beschrieb und dokumentierte der Kulturhistoriker und Lehrer Carl Friedrich Wilhelm Rußwurm in einer dreibändigen Publikation Eibofolke oder die Schweden an den Küsten Ehstlands das Leben der Schweden in Estlands Küstenregionen.[12]
An diese Tradition der historischen Darstellung einer Region knüpfte der über die Insel Hiiumaa 2015 publizierte Band HIIUMAA. Loodus aeg inimene an. Er thematisiert verschiedene Aspekte des Insellebens samt der dortigen Gutsgeschichten im geografischen, historischen, wirtschaftlichen, kulturgeschichtlichen und volkskulturellen Kontext.[13] Erwähnenswert im Zusammenhang mit der Entstehung des Herrenhauses Suuremõisa ist ein kleiner Anteil mündlich weitergegebenen Wissens auf der Insel, der in den Aufsätzen des Bandes zur Gutsgeschichte von Großenhof mit aufgenommen wurde.[14] Im Jahr 2017 gab Anu Hülg eine Broschüre zur Geschichte des Hauses für das Museum von Hiiu-Suuremoisa heraus.[15] Die estnische Landschaftsarchitektin Kristiina Hellströöm rekonstruierte zwischen 2012 und 2014 Areale des Gartens und des Parks aus dem 19. Jahrhundert. Sie forschte zudem zu den Großenhof‘schen Gärten von der Zeit der Renaissance bis in das 20. Jahrhundert.[16]
Zur Geschichte der baltischen und skandinavischen Länder forscht im deutschsprachigem Raum unter anderem Ralph Tuchtenhagen. Er verfasste für die C.H. Beck Reihe Wissen Überblickwerke zur skandinavischen und baltischen Geschichte, die Bibliografien relevanter Literatur bis zum Zeitpunkt der jeweiligen Publikation in einer Auswahl zur Verfügung stellen.[17] Eine historische Kontextualisierung ist für die Geschichte des Gutes Hiiu-Suuremõisa, das lange Zeit zum schwedischen und nach dem Großen Nordischen Krieg zum russischen Einflussbereich gehörte, unabdingbar. Ebenso wichtig für die Forschung zum Herrenhaus Hiiu-Suuremõisa und dessen Bauherrin mit schwedischen Wurzeln ist die Literatur schwedischer Wissenschaftler. Der Wirtschaftshistoriker Göran Ulväng veröffentliche 2008 einen umfassenden quellenbasierten Blick auf das Leben und Wirtschaften auf den Gutshöfen und in den Herrenhäusern Upplands.[18] Svante Norrhem, Historiker an der Universität Lund, forscht kontinuierlich zu frauenspezifischen Themen im Rahmen der Sozialgeschichte.[19] Im kunsthistorischem Bereich leisten unter anderem die Untersuchungen zur Architektur und Innenausstattung schwedischer Adelshäuser im 18. Jahrhundert von Gösta Selling wertvolle Beiträge.[20] Die Reihen Slott och Herresäten I Sverige liefern fundierte Überblicke zu den schwedischen Besitzungen der Familie De la Gardie.[21]
Biografische Überblicke zu diversen schwedischen Persönlichkeiten des Reichsadels aus dem 17. und 18. Jahrhundert bietet zum Beispiel das Svenka biografiskt lexikon (SBL), das auch online zur Verfügung steht und vom Riksarkivet betreut wird. Eine weitere wertvolle online Ressource ist das Svenskt kvinnobiografiskt lexikon (SKBL), das die Biografien von Frauen in Schweden durch verschiedene Forscherinnen und Forscher zusammenstellt. Wie auch das SBL gibt das SKBL Informationen zu Quellenmaterialien in verschiedenen schwedischen Archiven.[22]
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[1] Vgl. zur Wirtschaftsgeschichte der Dagöer Güter während der schwedischen Herrschaft: Seppel: Rootsi aeg 1563-1710, S. 279-304. Zur russischen Herrschaftszeit vgl. Russak, Helve: Vene keisririigi aeg 1710-1917, S. 305-330. Zu Gutsherren und Gütergeschichte vgl. Kaskor: Mõisad ja mõisnikud, S. 331-374. Alle Beiträge erschienen in: Põllo, Telvik, Mäeots (Hgg.) 2015. Vgl. außerdem: Seppel 2017.
[2] Vgl. Soom 1954.
[3] Link im Text.
[4] Vgl. Maiste 1996; Maiste 2021; Maiste 2022, 2023, Bde. I, II.
[5] Vgl. z.B. Hein 2003, S. 44; Hein 2017, S. 85-86. Vgl. Überlegungen zu architektonischen Vorbildern ebenso: Sakk 2004, S. 338.
[6] Digitalisat: https://www.digar.ee/arhiiv/nlib-digar:259420.
[7] Vgl. Meißner (Hg.) 1913, S. 18-19.
[8] Vgl. Pirang 1926, Bd. 1, S. 52.
[9] Vgl. Stenbock 1937.
[10] Freundliche Auskunft von Henning von Wistinghausen.
[11] Hupel 1774-1782, Bde.1-3. Bd.1: https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb10782589; Bd.2: https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb11095466; Bd.3: https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb10782591 [2024-05].
[12] Vgl. Rußwurm 1855. Bd.1: https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb10452456; Bd.2: https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb10452455; Bd. 3: https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb10452457 [2024-05].
[13] Põllo, Telvik, Mäeots (Hgg.) 2015.
[14] Freundliche Auskünfte von Helgi Põllo [6.10.2023] und Vello Kaskor [12.10.2023].
[15] Vgl. Hülg 2017 (repint), S. 25.
[16] Vgl. Hellströöm 2016; Hellströöm 2023.
[17] Vgl. Tuchtenhagen 2008. Vgl. Außerdem: Tuchtenhagen 2014.
[18] Vgl. Ulväng 2008.
[19] Vgl. Norhemm 2007.
[20] Vgl. Selling 1991 (Ersterscheinung 1937).
[21] Vgl. Kjellberg 1971, Bde. 1 und 2; Vgl. außerdem: Roosval 1934, Bd.II.
[22] Vgl. Svenka biografiskt lexikon: SBL, https://sok.riksarkivet.se/sbl/Start.aspx?lang=se; Svenskt kvinnobiografiskt lexikon: SKBL, https://www.skbl.se/en.