Architektur
EinleitungDie im Ostseeraum überlieferten Herrenhäuser und ihre Gutsanlagen bilden die steinernen Zeugen der Geschichte der gesamten Region. Die Architektur der Anwesen ist Ausdruck ihrer jeweiligen Zeit und der vorhandenen Lebensumstände. Die Gebäude dokumentieren in verstetigter bzw. ‚versteinerter‘ Form die historische Umwelt und reflektieren in ihren Bauformen und Bautypen die jeweilige historische Lebenssituation der Menschen. Genau betrachtet, gibt es im Detail vermutlich fast ebenso viele unterschiedliche Architekturen von Herrenhausbauten und Gutsanlagen wie es Anwesen gibt. Ein Vergleich oder gar über gemeinsame Architekturformen zu schreiben, scheint daher ein schwieriges Unterfangen. Dennoch sind schon anhand der dreijährigen Beschäftigung mit einigen exemplarischen Herrenhausbauten des 18. Jahrhunderts im Forschungsprojekt zahlreiche Gemeinsamkeiten bei den Hauptgebäuden der Gutsanlagen auffällig. Diese Gemeinsamkeiten lassen sich in der übergreifenden Verwendung von Gebäudetypologien und vergleichbaren Bauformen in der gesamten Ostseeregion festmachen,[1] ohne dass dabei im ‚internationalen‘ 18. Jahrhundert regionale oder lokale Bautraditionen vollständig abgelegt werden. BautraditionenIm 16. und 17. Jahrhundert dominierten in den Anrainerstaaten der Ostsee lokale oder regional geprägte Bautraditionen, die einerseits durch die vor Ort vorhandenen (oder fehlenden) Kenntnisse über das Bauwesen und anderseits nachhaltig durch die vor Ort vorhandenen (oder fehlenden) Materialien bestimmt waren: Wie in Zentraleuropa sind die wesentlichen Baumaterialien der Ostseeregion Holz, Bruch- oder Hausteine sowie Ziegel. Im holzreichen Skandinavien aber auch in Polen und im Baltikum war bis weit ins 18. Jahrhundert die Holzbauweise für den Bau von Herrenhäusern verbreitet: Als Beispiele lassen sich etwa Ungurmuiza (ehemals Orellen) [ABB 1] in Lettland (1731–1732) oder Fossesholm (um 1708, umgebaut 1763/64) [Link Fossesholm] [ABB] im damals zu Dänemark gehörenden Norwegen benennen. Vor allem Wirtschafts- und Nebengebäude wurden in den genannten nördlichen Regionen des Ostseeraums oft als Vollholzbau in einer Bauweise wie Blockhütten konstruiert, bei denen ganze Baumstämme abgeflacht, aufeinander geschichtet und an den Ecken überblattet werden [ABB 2]. Ein gut erhaltenes Beispiel für die Holzbauweise bietet ein vermutlich im späten 17. Jahrhundert errichtetes Speichergebäude [ABB 3, 4] in Nuhjala (1764) [Link Nuhjala] in Finnland, das damals ein Teil Schwedens war. In holzreichen Regionen im südlichen Ostseeraum (z.B. Dänemark, Deutschland, Polen, Baltikum) wurde dagegen auch auf Mischkonstruktionen in Stein- und Fachwerkbauweise zurückgegriffen, die oftmals von lokalen Handwerkern – wie etwa Zimmerleuten – errichtet wurden wie beispielsweise bei dem Herrenhaus Galenbeck in Mecklenburg, Deutschland (1710 erbaut, 1747 erweitert) [Link Galenbeck] [ABB]. Herrenhausarchitektur aus Stein entstand in der Regel aus den vor Ort vorhandenen Steinsorten – je nach Kenntnisstand – meist in der regional üblichen Bauweise: in Ziegelbauweise wie etwa in Pronstorf (Schleswig-Holstein, 1716) [Link Pronstorf] [ABB] und Plüschow (Mecklenburg-Vorpommern, 1763) [Link Plüschow] [ABB] oder in Bruch- oder/und Naturstein und/oder Ziegelstein als Mischbauweise wie beispielsweise Stola (1713–1719) [Link Stola] [ABB] oder Hafslund (1758–1762) [Link Hafslund] [ABB], wo beide Herrenhäuser in unterschiedlichen Anteilen aus Ziegel-, Bruch- und Haustein errichtet wurden [ABB 5]. Diese Bauten wurden von verschiedenen (oft lokalen oder regionalen) Handwerkern – Maurer- oder Baumeistern – ausgeführt. Das Berufsbild des Architekten etablierte sich erst im Laufe der frühen Neuzeit und entwickelte sich im 17. und vor allem 18. Jahrhundert zum Beruf im modernen Sinn als Entwerfer und Überwacher der Ausführung.[2] Vorbilder und InternationalisierungDurch den 30-jährigen Krieg (1618–1648) kam der Adel des nördlichen Ostseeraums in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit aufwendigen Repräsentationsbauten in Mitteleuropa in Kontakt, die ihrerseits vielfach durch theoretische Ideale (u.a. Säulenordnungen, Symmetrie) und Bauten der italienischen oder französischen Renaissance und des Frühbarocks beeinflusst waren. Ältere Vorbilder der jeweiligen Regionen – Feste Häuser oder aus dem Burgenbau – verloren dadurch allmählich ihren Vorbildcharakter. Zu dieser Zeit wurden darüber hinaus graphische Vorlagen für das Bauwesen und ältere italienische sowie teilweise französische Architekturtraktate des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, die mit Musterentwürfen versehen waren, umfänglicher rezipiert:[3] Für Italien wären ausgehend von Leon Battista Albertis (1404–1472) De Re Aedificatoria (Florenz 1485) die weit verbreiteten Schriften Sebastiano Serlios (1475–1553/54) Libri I–VII, Libro extraordinario (1537–1551), die zahlreiche Vorlagen etwa für Architekturbauteile (z.B. Portalrahmungen, Libro extraordinario) und Landhäuser (v.a. Libro VII) enthalten, und Andrea Palladios (1508–1580) I quattro libri dell'architettura (Venedig 1570), die vor allem im Libro II Musterentwürfe für Villen auf dem Land – d.h. Herrenhäuser – enthielten, sowie Vincenzo Scamozzis (1548–1616) Dell'idea dell’Architettura universale (Venedig 1615) zu nennen, wo im Prima Parte, Libro terzo Landhäuser besprochen und abgebildet werden. Parallel entwickelte sich in Frankreich eine eigene Traktatliteratur: Nach Philibert de l’Ormes (1514–1570) Premier Tome d’Architecture (Paris 1567) mit einigen graphischen Vorlagen zum Hausbau erschienen Jacques Androuet Ducerceaus (1520–1586) Les plus exellents bastiments de France (Paris 1576, 1579) und weitere graphische Vorlagen aus seiner Hand. Anfang des 17. Jahrhundert veröffentlichte Pierre Le Muet (1591–1669) die Manière de bastir pour touttes sortes de personnes (Paris o.J. [1623]) mit Mustergrundrissen für den Hausbau in der Stadt, wobei einige Grundrisse durchaus für Landhäuser nutzbar waren, und Louis Savot (um 1579–1640) seine Architecture françoise des Bastimens particuliers (Paris 1624)– allerdings ohne Illustrationen. In vielen anderen Ländern entstanden in der Folge seit dem 17. Jahrhundert ebenfalls eigene Schriften zur Architektur,[4] wodurch sich das Bauwesen in Mitteleuropa allmählich veränderte und weiterentwickelte. Seit Beginn des 17. Jahrhunderts beeinflussten die in Italien entstandene Formensprache des Barock und seit der Jahrhundertmitte die französische Barockklassik herrschaftliche Bauten in anderen Ländern Europas – so in den Niederlanden, im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (und sogar teilweise in England). Oftmals mit diesem Zwischenschritt über Bauten in Mitteleuropa wurden die neuen architektonischen Formen und Gebäude als Vorbilder im Ostseeraum rezipiert und mit wachsendem Repräsentationsbedürfnis auch von der Ritterschaft und dem Adel bei der Errichtung neuer Herrenhäuser berücksichtigt. Historische VoraussetzungenGrund- bzw. Lehnsherren besaßen im Mittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit keine eigenen landwirtschaftlichen Betriebe, sondern nur Speicher für die Abgaben aus den Erträgen der von leibeigenen Bauern bestellten Felder. Adelige Wohnungsitze befanden sich in Festen Häusern nahe oder in herrschaftlichen Wohnhäusern in der jeweiligen Siedlung. Nach dem 30-jährigen Krieg begannen Grundherren ihren Besitz zu arrondieren und als Eigenbetriebe zu Lasten der Hörigen und leibeigenen Bauern zu betreiben, allerdings mit Ausnahme von Schweden, denn dort wurde die Leibeigenschaft bereits 1355 abgeschafft. Die wachsenden Erträge bilden vielfach die wirtschaftliche Grundlage für den Bau von regelmäßig angelegten Gutshöfen und neuen Herrenhausbauten, die trotz kriegerischer Zeiten im 17. und 18. Jahrhundert im ganzen Ostseeraum entstanden. Nach dem Ende des Großen Nordischen Krieges im Jahr 1721 setzte in vielen Ländern eine erhöhte Bautätigkeit bei Gutsanlagen ein. Deren Herrenhäuser weisen vielfach gleiche Bauformen auf, die dadurch Standeszugehörigkeit – etwa zur Ritterschaft und zum Landadel – signalisieren. BauformenIn Anlehnung an zeittypische Ideale der französischen aber auch holländischen und ‚teutschen‘ Architektur weisen Herrenhäuser des 18. Jahrhunderts im Ostseeraum durch unterschiedliche Rezeptionsvorgänge viele Gemeinsamkeiten auf. Entscheidende Impulse erhielt die Gestalt der Herrenhäuser der Ostseeregion dabei sowohl durch die Anschauung mitteleuropäischer Bauten vor Ort – etwa durch Reisen der Bauherren oder Bauherrinnen und/oder der entwerfenden Architekten, als auch über die Rezeption graphischer Vorlagen. Derartige Werke erschienen seit der Wende zum 18. Jahrhundert in wachsender Zahl und konnten auch Baumeistern und Auftraggebenden ohne Auslandsaufenthalte zur Anregung dienen. Besonders einflussreich waren dabei Charles-Augustin Davilers (1653–1701) Cours d’architecture qui comprend les Ordres de Vignole (Paris 1691), der mit zahlreichen Neuauflagen und Übersetzungen in verschiedenste Sprachen[5] breit rezipiert wurde, oder die Schriften des bedeutenden Architekturtheoretikers Jacques-François Blondel (1705–1774) – etwa sein Werk De la distribution des Maisons de Plaisance (Paris 1737/1738) mit verschiedenen Musterentwürfen für Landhausbauten unterschiedlicher Größe (und Kosten), die sehr gut für Herrenhausbauten genutzt werden konnten: So adaptierte der schwedische Architekt Carl Fredric Adelcrantz (1716–1796) beispielsweise einen Musterentwurf aus den Maisons de Plaisance Blondels (Tome Ier, Planche 32, und Planche 35) für das Herrenhaus Sturehov in Grund- und Aufriss [ABB 6–9 Blondel + Adelcrantz]. Aber auch Architekturtraktate aus dem deutschprachigen Raum wurden rezipiert: Paulus Deckers (1677–1713) ‚Fürstlicher Baumeister‘ hatte vermutlich einen eher allgemeinen als direkten Einfluss wie etwa das Beispiel aus Blondels ‚Maisons‘. Allerdings waren unter anderem die Schriften Joseph Furttenbachs (1591–1667) oder Leonhard Christoph Sturms (1611–1719) besonders in deutschsprachigen Regionen in Ostpreußen oder im Baltikum verbreitet. DreiflügelanlageSchon im späten 17. Jahrhundert galten laut Sabine Bock zweigeschossige Dreiflügelanlagen mit einem zurückgesetzen Hauptbau (Corps-de-Logis) und zwei Seitenflügeln um einen Ehrenhof (Cour d’honneur) in Schleswig, Holstein und Dänemark als ideale Anlagen, wie die Herrenhäuser Schackenburg (1664), Nysø (1671/1673) oder Clausholm (1690) [ABB 10] belegen.[6] Parallel dazu halte sich jedoch anfänglich der Bautypus eines einfachen aber groß dimensionierten, zweigeschossigen Rechteckbaus mit einem großen Saal im Obergeschoss, wie beispielsweise ausgeführt in Hohen Luckow (Mecklenburg, um 1707/08), Wulfshagen (Holstein, 1699), Goldenbow (Mecklenburg, 1696) und Ludorf (Mecklenburg, 1698) und Külz/Kulice (Hinterpommern, um 1700) sowie Fuchshöfen/Slawjanskoje (Ostpreußen, 1685, 1945 zerst.).[7] MittelrisalitAls innovative Form taucht ein drei-achsiger repräsentativer Mittelrisalit im Ostseeraum laut Bock erstmals am Schloss Steinort (Sztynort, 1689–1691) in Ostpreußen auf (heute verändert).[8] Das Bauelement wird in der Folge ab dem 18. Jahrhundert ein beliebtes, über die gesamte Ostseeregion verbreitetes Motiv der Fassadengestaltung wie auch die (wenigen) im Projekt untersuchten Herrenhäuser belegen: Christinehof (Schonen, 1737–1740), [ABB] Emkendorf (Schleswig-Holstein, 1743) [ABB], Gunderslevholm (Dänemark 1729) [ABB], Hafslund (Norwegen 1762) [ABB], Plüschow (Mecklenburg-Vorpommern, 1763) [ABB], Prebberede (Mecklenburg-Vorpommern, 1772–1778) [ABB], Pronstorf (Schleswig-Holstein, 1716) [ABB], Terlösegard (Dänemark 1750er), Tützpatz (Mecklenburg-Vorpommern, 1779) [ABB], Zleku/Schleck (Estland 17??) [ABB] und Stargordt (Polen 1717–1720) [ABB] sowie Suuremõisa (Estland, 1755–1760) [ABB] weisen alle eine drei-achsige hervorgehobene Mittelzone auf. Der Risalit wird in der Regel von einem Dreiecksgiebel (z.B. Christinehof, Gunderslevholm, Hafslund, Prebberede, Pronstorf, Suuremõisa) [ABB] oder von einem Zwerchhaus mit Giebel (z.B. Emkendorf, Plüschow, Terlösegard, Tützpatz) [ABB] bekrönt. Lediglich bei einem der im Projekt untersuchten Häuser fehlt ein Mittelrisalit (Galenbeck, Mecklenburg, 1710, 1747 erweitert) [ABB]. Ansonsten wurde der Mittelrisalit gelegentlich nur schlichter (z.B. in Nuhjala, Finnland 1764) [ABB] oder sonst oftmals deutlich aufwendiger als pavillonartiger Vorbau (z.B. Österbybruk, Uppland, Schweden, 1763) oder im späten 18. Jahrhundert mit kolossaler Säulenstellung (Kolga/Kolk, Estland 17??) [ABB] gestaltet. Ein in der Regel drei-achsiger Mittelrisalit wird folglich ein Charakteristikum von Herrenhausbauten: Mit dem Wappen des Bauherren oder der Bauherrin ist ein Risalit mit bekrönendem Dreiecksgiebel – wie etwa bei Schloss Bothmer [ABB 11] – hofseitig fast immer und gartenseitig bei der Mehrheit der Bauten vorhanden, beispielsweise beim Herrenhaus Apriķu muižas pils (ehemals Appriken) [ABB 12].[9] Typische BauformenMit ihrer umfänglichen Kenntnis der Herrenhäuser im Ostseeraum benennt Bock typische Merkmale, die sich am überwiegenden Teil der Herrenhäuser des 18. Jahrhunderts in der Region finden:[10] In der Regel handelt es sich bei einem Herrenhaus um einen zweigeschossigen Bau über hohem Sockel- oder Kellergeschoss – wie beispielsweise in Stargordt, Pronstorf oder Gunderslevholm [ABB]. MassivbauMeistens sind die Gebäude mit massiven Umfassungswänden errichtet, während Innenwände gelegentlich aus Fachwerk bestehen. Eine Ausnahme bilden im 18. Jahrhundert die Mehrheit der Herrenhäuser in Polen und den baltischen Staaten mit ihrer reinen Holzbauweise, die gelegentlich auch in schwedischen Gebieten (mit schwedisch Finnland) – beispielsweise beim Herrenhaus Rilax gård/Riilahden kartano (vollendet 1806) [ABB 13] – zur Anwendung kommt. FassadenDie Fassaden des Hauptgebäudes sind vielfach mit (Kolossal-)Pilastern (z.B. Fossesholm, Orellen, Pronstorf oder Stagordt [ABB]), seltener mit Lisenen oder Eckrustika (z.B. Stola [ABB 5]) gegliedert. Diese Gliederung wurde in einigen Fällen auch aufgemalt (z.B. in Kolga/Kolk, eventuell in Nuhjala). Bei Herrenhäusern aus Holz wurde die architektonische Gliederung aus hölzernen Bauteilen nachgeahmt – etwa in Orellen [ABB 14, 15]. Oftmals führt eine Freitreppe zum Hauptportal in der Mittelachse des Herrenhauses (z.B. Gundeslevholm, Pronstorf oder Hafslund) [ABB 16]. DachformenDie Herrenhäuser des späten 17. Jahrhunderts besitzen gelegentlich noch Satteldächer mit Treppengiebeln – ein älteres Beispiel dafür wäre z.B. Wasserschloss Quilow (1560–1570) [ABB 16] –, in der Regel jedoch große Walmdächer – wie etwa Schloss Clausholm (vgl. Abb 10), die neben Mansarddächern (Galenbeck, Nuhjala, Orellen, Österbybruk, Plüschow, Prebberede, Pronsdorf, Tützpatz) [ABB] auch die vorherrschende Dachform bei Dreiflügelanlagen (Christinehof, Emkendorf, Hafslund, Suuremoisa) [ABB] war. Im 18. Jahrhundert besitzt die Mehrheit der Herrenhäuser in der Ostseeregion die zeitgenössisch beliebten Mansarddächer nach französischem Vorbild (z.B. Suuremõisa, Christinehof [ABB]). Einige Gebäude haben jedoch auch vollausgebildete Walmdächer (z.B. Gundeslevholm, Fossesholm [ABB]) oder Krüppelwalmdächer (z.B. Nuhjala) [ABB xx] und in Schweden besitzt ein Teil der Herrenhäuser die charakteristischen, landestypischen Säteri-Dächer (z.B. Stola) [ABB]. GrundrissgliederungBeeinflusst durch zeittypische Ideale der französischen, holländischen und ‚teutschen‘ Architektur, die auf unterschiedlichen Wegen (Reisen, graphische Vorlagen, ...) rezipiert wurden, besitzen die Grundrisse der Herrenhäuser des 18. Jahrhunderts im Ostseeraum oftmals Gemeinsamkeiten. Die Grundrissaufteilung geht u.a. auf unterschiedliche Herren- und Landhausbauten sowie zahlreiche graphische Vorlagen verschiedenster meist mitteleuropäischer Autoren zurück. In der Folge entstehen im Ostseeraum vereinzelt auch eigene Musterentwürfe für den Landhausbau: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stehen beispielsweise im schwedischen Sprachraum die vielfältigen Modelentwürfe[11] Carl Wijnblads[12] (1705–1768) zur Verfügung. UntergeschossWie in Architekturtraktaten seit Louis Savots (um 1579–1640) Architecture françoise des Bastimens particuliers (Paris 1624) empfohlen, werden europaweit und auch in Herrenhäusern der Ostseeregion die Keller- oder Souterrainräume im Untergeschoss oft mit Gewölben und Steinfußböden (insbesondere in der Küche) erbaut [ABB xx Elingaard]. Ansonsten beherbergt das Untergeschoss der Gebäude in der Regel Wirtschafts- und Vorratsräume (z.B. Suuremõisa, Hafslund, Elingård), gelegentlich Räume für (Küchen-)Bedienstete sowie in Ausnahmefällen auch einen Gartensaal (z.B. Vorgängerbau Hafslund) [evtl ABB]. ErdgeschossDas aufgesockelte und damit erhöhte Erdgeschoss diente häufig als das repräsentative Geschoss. Die Räume werden oftmals lediglich über eine große Diele oder Halle erschlossen, von der auch das anschließende Treppenhaus abgeht wie etwa in Christinehof, Emkendorf oder Gundeslevholm [ABB]. Gelegentlich liegt die Treppe wie in Plüschow [ABB], Suuremõisa [ABB] oder Kummerow [ABB] auch in einer zweigeschossigen Halle. Vielfach schließt sich an die Diele ein gartenseitig angeordneter Saal an, der sich aber genauso oft im ersten Obergeschoss befinden kann. Durch das Appartement double-System, bei dem die Räume an der Hof- und Gartenseite Rücken an Rücken ohne Binnenflur angeordnet werden, sind Verkehrswege wie zusätzliche Flure oftmals auf ein Minimum reduziert, aber gelegentlich sind Serviceflure (Degagements) für die Dienerschaft vorhanden (z.T. erhalten in Stola, belegt in Nuhjala) [ABB GR]. Auf beiden Seiten der Diele sind – in Anlehnung an höfische Gepflogenheiten – häufig symmetrisch Appartements aus bis zu vier Räumen angeordnet (z.B. Stola [ABB GR], Suuremõisa), die auf der Gartenseite durch Türen vielfach mit dem Saal als Enfilade verbunden werden (z.B. Österbybruk, Nuhjala) [ABB]. Wie Bock feststellt,[13] sind die (Arbeits-)Räume des Gutsherren oftmals links am Hof angeordnet, was sowohl einen guten Überblick über die Anlage als auch eine direkte Erreichbarkeit gewährleistete. ObergeschossAuch das Obergeschoss konnte als repräsentatives Stockwerk (Bel Etage) dienen. In der Regel wiederholte sich dann die beschriebene Raumaufteilung des Erdgeschosses mit seitlichen Appartements und mittigem Saal. Zweigeschossige Häuser hatten jedoch oftmals in jedem Fall einen Saal im Obergeschoss (z.B. Prebberede, Stola) [ABB]. Auch wenn die repräsentativen Räume im Erdgeschoss lagen, war im Obergeschoss oft dennoch ein Saal angeordnet (z.B. in Hafslund). Häufig befanden sich an einem Längsflur im Obergeschoss jedoch Schlaf-, Kinder- und Gästezimmer, gelegentlich Schul- und Lehrerzimmer. DachgeschossEin Mansard-, Walm- oder Säteridach bildet im Herrenhaus einen großen Dachraum aus [ABB Plüschow], der als Multifunktionsraum etwa als Speicher, für Personalräume oder für die Hauswirtschaft (Trockenboden) genutzt wurde. Im zweiten Dachgeschoss befand sich zusätzlich gelegentlich eine Räucherkammer.[14] |
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LiteraturBock 2007 – Bock, Sabine: Gutsanlagen und Herrenhäuser. Betrachtungen zu den historischen Kulturlandschaften Mecklenburg und Vorpommern, Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-Vorpommern, Landeskundliche Hefte, 3. überarbeitete Auflage, Schwerin 2007. Bock 2017 – Bock, Sabine: "Haben Häuser einen Stammbaum? Wie sich der Bautyp >Herrenhaus< entwicklet hat", in: Schlösser und Herrenhäuser der Ostseeregion. Bausteine einer europäischen Kulturlandschaft, hrsg. von Kilian Heck, Sabine Bock, Jana Olschewski, Schwerin: Thomas Helms 2017, S. 301–358. Bock 2023 – Bock, Sabine: Herrenhäuser – Manor houses. Entwicklung eines Bautyps im Ostseeraum, 2: Die Anfänge. Developement of a Building Type around the Baltic Sea, 2: The Beginning, Schwerin 2023. Johannes 2009 – Johannes, Ralph (Hrsg.): Entwerfen, Architektenausbildung in Europa von Vitruv bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Geschichte, Theorie und Praxis, Hamburg 2009. Kruft 1995 – Kruft, Hanno Walter: Geschichte der Architekturtheorie. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 41995 (1985). Wilke 2016 – Wilke, Thomas: Innendekoration. Graphische Vorlagen und theoretische Vorgaben für die wandfeste Dekoration von Appartements im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich, München 2016. |